Lebensbeschreibung

Ferdinando Maria Meinrado Francesco Pascale Rosario Carulli wurde am 10. Februar 1770 (im gleichen Jahr wie Beethoven) in Neapel in einer recht wohlhabenden Familie geboren. Sein außergewöhnlich belesener Vater Michele Guiseppe Carulli, der ursprünglich aus Bari stammte, war Sekretär der neapolitanischen Gerichtsbarkeit im "Königreich beider Sizilien". Seine Mutter war eine Neapolitanerin mit Namen Patrizia Federici, von der aber sonst nichts weiteres bekannt ist. Der junge Carulli wuchs in der Via Nardones in der Nähe des Palazzo Reale in Neapel auf und erlernte schon früh die Grundlagen der Musik und das Spielen des Violoncellos durch einen Priester, der selbst aber musikalischer Laie war. Hier kam Carulli in Kontakt mit einem anderen, zu jener Zeit in Italien sehr populären Instrument, der Gitarre. Dieses Saiteninstrument wurde jedoch nahezu ausschließlich als Begleitinstrument zum Gesang eingesetzt und war damals auf fast allen Straßen Neapels zu den abendlichen Serenaden zu hören. Die Gitarre hatte sich gerade von einem fünf- zu einem sechseitigen Instrument entwickelt und auch die doppelte Besaitung war weggefallen.

Angetan von dem schönen Klang und den harmonischen Möglichkeiten der Gitarre, begann Carulli mit diesem Instrument zu experimentieren. Die Laute als Soloinstrument war schon lange bekannt und sicherlich wurden damals auch ab und an reine Instrumentalstücke auf der Gitarre gespielt. Der junge Carulli musste aber schon geahnt haben, dass in dem damals noch etwas handlicheren Instrument ein kleines Orchester steckte, das zum Leben zu erwecken galt.

Im Alter von 16 Jahren beschloss er, sich ausschließlich dem Gitarrespiel zu widmen. Aus Mangel an geeigneten Lehrern und an gedrucktem Noten- material war Carulli sich selbst überlassen, was dazu führte, dass er sich einen eigenen Lehrgang mit Studien und Übungen zur Steigerung seiner eigenen gitarristischen Fertigkeit erstellte. Aufgrund seiner außerordentlichen musikalischen Begabung und seiner hohen Konzentrationsfähigkeit gelang es ihm, sich in seinen frühen zwanziger Lebenjahren zu einem der herausragendsten Gitarristen zu entwickeln, sodass seine Konzerte in Neapel sehr populär wurden. Jetzt konnte seine Karriere auch außerhalb von Neapel beginnen. Und damit gehörte Carulli zur ersten Generation der Meister der sechsaitigen Gitarre und war Pionier der italienischen Gitarristik.  

Im Jahre 1796 ( anderen Quellen zufolge 1797) siedelte er nach Livorno in die Toskana um, wo er sich bald einen Namen als meisterhafter Lehrer und Virtuose machte. Hier heiratete er 1801 die aus Frankreich stammende Marie-Joséphine Boyer, die ihm seinen einzigen Sohn Gustave Carulli (1801 - 1876) schenkte. In diesen Jahren machte er auch die Bekanntschaft mit dem in Livorno geborenen Musiker Filippo Gragnani (1768 – 1820), der sein Schüler wurde und mit dem er dann zeitlebens in freundschaftlichem Kontakt blieb.
Von Livorno aus begannen Carullis sehr erfolgreichen Konzertreisen durch Europa.
Die ersten Zeichen seiner Gegenwart außerhalb Italiens tauchten um 1803 auf, als Gombart von Augsburg eine kleine Zahl an Publikationen herausbrachte. Andere Werke wurden in Paris und Wien in den Jahren 1806-1807 herausgegeben, hauptsächlich von Leduc, Pleyel und Artaria, und in Hamburg von Böhme und in Mailand von Mozino und Casa Ricordi.
Im Jahre 1808 gab er in Paris viele Konzerte und erntete stets vollen Erfolg. Das war dann auch wohl mit ein Anlass, dass er nach einem Aufenthalt in Wien schon im gleichen Jahr Paris zu seinem ständigen Wohnsitz machte, wo sich um ihn als Zentrum eine wahre Gitarromanie bildete. Er selbst konnte sich hier als Virtuose in seinen Salonkonzerten, insbesondere aber als Komponist und Lehrer sehr schnell etablieren.

In Anlehnung an die zeitgenössische Musikkritik kann Carrulli als erster angesehen werden, der der Pariser Zuhörerschaft darbrachte, was eine Gitarre an Kapazitäten bezüglich Ausdrucksfähigkeit, Harmonie und Virtuosität zustandebringen kann. Gleichzeitig bewirkte Carullis selbst entwickelte Spielweise eine Änderung in Geschmack und Aufführungspraxis.

Innerhalb weniger Jahre publizierte er dutzende seiner Manuskripte, die er teilweise aus Italien mitgebracht hatte. Wie kein anderes Werk demonstriert seinen Erfolg die “Méthode complete op.27” (1810), die eine Vielzahl von Neuauflagen sowohl in Frankreich als auch im Ausland erlebte. Für Jahrzehnte war sie das Grundlehrwerk für angehende Gitarristen. Eine neue Bearbeitung von Benvenuto Terzi (1892-1980, italienischer Komponist und Konzertgitarrist) erschien zuletzt 1955 bei Ricordi in Mailand.
Carulli starb am 17. Februar 1841 in Paris im Alter von 71 Jahren.

Viele der Carullischen Werke blieben wegen ihrer Komplexität unveröffentlicht. Die Verlagshäuser wollten nicht in sie investieren, weil sie dachten, sie seien zu schwierig und würden sie sich deshalb nicht verkaufen. Unglücklicherweise sind so aufgrund kurzsichtiger Geschäftleute ein Großteil seines anspruchvolleren Werke verloren gegangen.

Der Komponist und Virtuose

Neben seiner Pionierarbeit zur Entwicklung der sechsaitigen Gitarre und ihrer Verwendung als Soloinstrument zählt Carulli auch als Mitbegründer ihres modern Ausdrucksvokabulares. Typisch für Carullis Musik - wir erinnern uns, er hatte Cello gelernt - ist die Verwendung des Stiles zeitgenössischer Streichinstrumenten- und Klaviermusik, inbegriffen virtuoser Passagen, die damals unübliche Anforderungen stellten: schnelle Arrpeggio-Figuren, ansteigende Phrasen und Skalen entlang der gesamten Griffbrettlänge, schnelle Passagen in Triolen und Sechstolen und Oktaven, sowohl gebrochen als auch zusammenklingend, Verwendung der Legatotechnik der Greifhand, Glissandos und Flageoletts.

Alle zeitgenössische Berichte stimmen miteinander überein, wenn sie Carullis virtuoses Gitarrespiel beschreiben. Die Beherrschung seines Instrumentes war außergewöhnlich. Ohne Korrektur und Mühe führte er selbst schnellste Passagen, ob Doppelgriffe oder ganze Akkorde, perfekt intoniert aus. Das Spielen schneller Skalen über drei Oktaven oder sogar noch einer zusätzlichen Oktave unter der Verwendung von Flageoletts waren ein Vergnügen für das Ohr.

Die Zahl der Kompositionen reichen an die Zahl 400 heran und zeichnen sich durch starke Unterschiedlichkeit aus: Ein Zeichen seiner schier unerschöpflichen Kreativität. Mitunter lässt sich zwar verallgeinern, dass sein Kompositionsstil nach italienischer Art aus der Imitation eines kleinen Opernorchesters bestand und zwar hauptsächlich als Nachahmung des "bel canto", des schönen Gesanges. Diese Beschreibung ist jedoch äußerst unzureichend. Unter seinen Solowerken für Gitarre finden sich viele deskriptive Stücke und Sonaten die einen ausgesprochen hohen Wert dadurch haben, dass sie die Fähigkeiten und Einfallsreichtum in der Darstellung der zahlreichen Resourcen des Instrumentes Gitarre aufzeigen. So sei hier nur seine "Improvisations Musicales" Opus 265 genannt, die aus 45 sehr brillianten Präludien in unterschiedlichen Tonarten bestehen.

Er war einer der fruchtbarsten Schöpfer von Duos für zwei Gitarren, die gekennzeichnet sind durch ihren Harmoniereichtum, die Eleganz ihrer Form, ihre unterschiedlichen Instrumentalisierungseffekte und die Individualität ihres Stiles. 

Vergleicht man aber Carullis Schaffen mit dem anderer zeitgenössischen Gitarre-Komponisten, fällt auf, dass Carullis charakteristische Stärke in der Kammermusik lag, und zwar mit mehr als der Hälfte der 366 mit Opuszahlen versehenen Werke. Sie wurden für die verschiedensten Intrumentkombinationen geschrieben, als Duos, Trios und sogar Quartette, aber für ein Klientel das ganz anders geartet war, als der stereotype einsame Amateur! Als besonders populäres Stück sei hier vor allem das Trio Op. 12 für Flöte, Violine und Gitarre erwähnt. In der Neuzeit erlangte vor allem sein Duo in G Op. 34 große Bekanntheit, da es 1980 in der britischen Kult-sci-fi-TV-Spielshow "The Adventure Game" regelmäßig zu hören war. Seine Konzerte für Gitarre mit Streichquartett oder anderen Orchesterinstrumenten, in denen die Gitarre immer die Hauptrolle spielt, können nur von einem Künstler stammen, der über ausgereifte musikalische Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt. Carulli wagte sich auch an Programmmusik mit pastoralen, mythologischen, “meteorologischen”, militärischen und politischen Themen. So gehören dazu die “Sonate sentimentale - Napoleone il Grande" (ohne Opuszahl) von 1807, "Nice et Filomeno ou L'Orage - sonate sentimentale Op. 2 (ca. 1809),  “La Paix, pièce historique”, Op. 85 (1814), das Divertimento “La girafe à Paris”, Op. 306 (1827) und “La prise D’Alger” Op. 327 (1830).

Erwähnenswert sind weiterhin Carullis Werke für Gitarre und Hammerklavier, die er entweder allein oder in Zusammenarbeit mit seinem Sohn Gustavo schrieb und herausgab. Hier orientieren sich viele dieser Werke, bedingt durch das Pariser Umfeld und den entsprechenden Zeitrahmen, an beliebten Opernmelodien von Rossini. Darüber hinaus entstanden in dieser Instrumentenkombination auch umgearbeitete Stücke oder Variationen über Themen von Beethoven, Agthe, Ries und Auber. In diesen Werken kommt beiden Instrumenten eine gleichberechtigete Rolle zu, die Gitarre konzertiert mit dem Hammerklavier, wobei beide Instrumente umeinander jeweils die Melodieführung übernehmen. Mit modernen Instrumenten ausgeführt, bei denen sich die Konzertgitarre kaum gegen das relativ laute Klavier durchsetzen kann, wirken diese Stücke sehr unattaktiv. Das mag wohl mit ein Grund sein, warum man sie so gut wie nicht mehr aufführt.  

Als Gitarrenvirtuose blieb Carulli in Paris über Jahre ohne ernstzunehmende Konkurrenten, bis auf die mit ihm befreundeten Italiener Matteo Carcassi und Francesco Molino. Seine privililegierte Position begann erst zu wanken, als Fernando Sor im Jahre 1823 die ersten Konzerte in Paris gab. Der begabte Spanier, jünger, sehr elegant und von höchster musikalischer Virtuosität, brachte frischen Wind in die französische Metropole. 

Die nachfolgenden Gitarristengenerationen fühlten sich vielfach der Sorschen Werke verpflichtet, so dass die Carullischen Kompositionen, bis auf wenige kammermusikalische Werke, immer weniger Beachtung fanden.

Der Tüftler

Immer auf der Suche sein Instrument zu verbessern, verbrachte Carulli viel Zeit mit dem bekannten Gitarrenbauer und Instrumentenmacher René Lacote, der mehrere Gitarrenmodelle nach Carullis Ideen baute.
Im Jahre 1826 baute und patentierte er zusammen Lacote eine ungewöhnliche zehnsaitige Gitarre, eine Gitarre also mit vier zusätzlichen Bass-Saiten, die er “Decacordo” nannte und für die er auch eine “Méthode complète, Op.293” im Jahre 1826 schrieb. Einige Gitarren, darunter eine von Carulli sehr oft verwendete und um 1752 vom Lautenist Claude Boivin gebaute, werden im Museum des Nationalen Musikkonservatoriums in Paris aufbewahrt.

Der Lehrer

Carulli war ein unermüdlicher Lehrer. Seine Arbeit und Reputation als Lehrer inspirierten die Gitarristen aus ganz Europa, vor allem aber aus Italien. Viele reisten nach Paris, um von dem Meister zu lernen. Zu seinen Schülern zählten Mitglieder des Pariser Adels und des gehobenen Bürgertums. Seine Lehrmethode wurde zum Vorbild und Standard für den klassischen Gitarrenunterrricht.

Um 1810 wurde sein Lehrwerk "Méthode" herausgegeben und Carulli war damit der erste, der eine komplette Lehrmethode zum Selbststudium für die Gitarre veröffentlichte. Im Vergleich dazu: Dionisio Aguados "Escuela" erschien 1825 und Fernando Sors "Méthode" erstmals 1830. Die berühmte dreiteilige "Méthode complète pour la guitare" Op. 59 von Matteo Carcassi erschien 1836, wobei viele Parallelen zur Carullischen Methode auffallen, wenn sie auch einige Verbesserungen gegenüber ihrem Vorbild aufweist. Dadurch setzte sich die Carcassi-Methode immer mehr durch und sie wird auch heute noch verwendet. In der spanischen Gitarristik fand natürlich die Sorsche Schule ihre Verbreitung und wurde nicht zuletzt Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Dogmatik des spanischen Gitarristen Andrés Segovia den italienischen Schulen vorangestellt.

Zusätzlich zu Carullis "Méthode" Op.27 und ihren Nachfolgern gehört zu seinen erfolgreichsten pädagogischen Sammlungen "L’utile et l’agréable" Op.114 (1817 ?), die die bekannten 24 Präludien enthält, die "Morceaux faciles" Op.120 (1817 oder 1818) und die Serie mit dem Titel "Un peu de tout" Op.276 (1825). Außerdem veröffentlichte Carulli eine Abhandlung über Transskriptionen, die er "L’harmonie appliquée à la guitare" (1825) nannte, ein einzigartiges Dokument der Gitarrenliteratur.

Neben seinen Tätigkeiten als Lehrer und Komponist für Gitarre, genoss Carulli auch große Popularität als Gesangslehrer und war sogar Professor für Gesang am Französischen Nationalkonservatorium in Paris, wo seine Gesangsmetode und seine Lehre übernommen wurde.

Unter Carullis Schülern, die sich später als Künstler besonders großen Könnens erwiesen, gehörten zwei Gitarristen, Filippo Gragnani (1767- 1820) und Victor Magnien (1804-1885), die beide sehr berühmt wurden. Inwieweit Matteo Carcassi zu Carullis Schülern gehörte, wie oft behauptet wird, ist nicht belegt, zumal Carcassi im Gegensatz zu Carulli das Spielen mit den Fingerkuppen bevorzugte.

Ein weiterer prominenter Schüler war sein Sohn Gustave (1801-1876), der sich später als Komponist und Lehrer für Stimme und Komposition hervortat und Nachfolger seines Vaters als Professor am Pariser Nationalkonservatorium wurde. Der gefeierte Organist Alexandre Guilmant (1837- 1911) soll Schüler von Gustave Carulli gewesen sein, andere Quellen nennen den älteren Vater Ferdinando Carulli als dessen Lehrer. Sicher ist jedoch, dass Guilmant stetes Interesse an der Gitarre und der Mandoline zeigte.

Quellen und Literatur

  • Philip J. Bone: The Guitar & Mandolin, Biographies of celebrated players and composers for these instruments, Schott & Co. London 1914
  • Fétis, François-Joseph: Biographie universelle des musiciens et bibliographie générale de la musique, Firmin Didot, Paris 1866
  • Eduard Fack: "Materialien zu einer Geschichte der Guitarre und ihre Meister mit Abbildungen", Berlin 1884
  • Buek, Fritz: Die Gitarre und ihre Meister, Lienau, Berlin 1926
  • Mario Torta, Doctoral thesis: Ferdinando Carulli (1770-1841):profilo-biografico-critico e catalogo tematico delle opere con numero (con cenni sulla formazione della chitarra esacorde ed elementi di metodologia bibliografica); Università degli studi di Roma, La Sapienza; 1989.
  • Annala, Hannu; Mätlik, Heiki: Handbook of Guitar and Lute Composers, Mel Bay 2007
  • Filippo E. Araniti: Carulli, Ferdinando ,Fantaisie et Variations op. 366 (Prefazione del Revisore), Fondazione Araniti Editions 2003
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